
Sprechen, Spielen, Sprechen
In der Alten Wache an der Eichenstraße am Ring haben Judith und Jan Sonntag ihre Praxis für Musiktherapie. Sie zeigen ihren Klienten, wie sie mit Hilfe von Musik das ausdrücken, was sie nicht sagen können.
Von Christian LitzSprechen, spielen, sprechen. So läuft das ab in der Alten Wache in der Eichenstraße 37 am Schulweg. Das Gebäude, zweistöckig, im Neorenaissancestil der Hamburger Gründerzeit, – gleicher Architekt wie der Knast in Fuhlsbüttel – ist die Zierde der Gegend.
Klein und pittoresk steht es zwischen den Großen und wird manchmal übersehen, vor allem, wenn die Ampel an der Osterstraße grün ist und die Autos durchfahren können.
Die Alte Wache wurde 1890 gebaut, als Eimsbüttel Dorf war und Straßen nur von der Hamburger Innenstadt nach außen führten. Den Ring 2, der an diesem Abschnitt Schulweg heißt und dreißig Schritte weiter Gärtnerstraße, gab es noch nicht. Die Alte Wache kam unverändert durch die Zeit, sieht heute noch so aus wie damals. Die Außenwände sind verkachelt, der Giebel spitz. Drin war lange die Polizei, samt Arrestzelle und Kohlekeller. Später eine Fürsorgestelle für Säuglinge und Kinder.
Stille in Neorenaissance
Vor der Lehman-Brothers-Pleite und dem anschließenden Immobilienboom wurde das Gebäude saniert und kurz darauf billig verkauft. Seit 2007 haben die Musiktherapeuten Judith und Jan Sonntag ihre Praxis in der Alten Wache und wohnen mit ihren drei Kindern auch dort.

Jan Sonntag steht auf und öffnet das Fenster. Man hört den Ring, aber es ist erstaunlich ruhig. Die großen Häuser schlucken den Verkehrslärm des Rings für das kleine Gebäude. In dem hohen Raum stehen und liegen etwa 60 Musikinstrumente: ein Cello, ein Piano, ein Schlagzeug, ein Vibraphon, Gitarren, Perkussionsinstrumente. Die Sonntags sind ziemlich ausgelastet. Wenn Patienten zur Therapie kommen, gilt: sprechen, spielen, sprechen.
„Man kommt mit Musik hinter das rein Rationale“
Musiktherapie ist eine Wissenschaft. „Sie baut darauf auf, dass viele Menschen Musik nutzen, um sich zu regulieren”, sagt Jan Sonntag. Abtanzen, grölen, zuhören, abschalten, beruhigen, Aggressionen rauslassen. Er ist Professor an der Medical School Hamburg, lehrt auch an anderen Unis, ist Therapeut, Forscher, Dozent, Buchautor und Experte für die Wirkung von Musik beim Behandeln von Menschen mit Demenz.
Judith Sonntags Schwerpunkt ist Musiktherapie in der Palliativmedizin, also bei der Betreuung Sterbender in Einrichtungen und bei ihnen zu Hause.
Das Musik-Gedächtnis und seine Tiefen
Es gibt viel zu lesen über Musiktherapie. Aber wenn Judith und Jan Sonntag die Wissenschaft auf einen Aspekt reduzieren, bleibt übrig: „Leute, die sich verbal sehr gut ausdrücken können, haben viel von Musiktherapie.” Es geht um Emotionen und das musikalische Gedächtnis, das oft weiter zurückreicht als das normale Erinnern. Man kommt mit Musik hinter das rein Rationale, kann den „problematischen Umgang mit Gefühlen” verändern. Mit Musik ausdrücken, was man vielleicht nicht sagen kann.

Judith Sonntag geht zum Laptop und lässt die Aufnahme einer Therapiemusik abspielen: Sie am Klavier, jemand anderes am Vibraphon, später an einem Glockenspiel. Manchmal harmonieren die beiden, doch ab und zu bricht die Person mit dem Vibraphon einfach aus, am Ende singt sie auch. Da haben die beiden später drüber gesprochen und etwas entdeckt.
Es gibt in der Alten Wache nur Instrumente, die für alle spielbar sind, also keine Querflöte, keine Trompete. Die Klienten, die herkommen, sind oft Menschen, die als Patienten Musiktherapie in Einrichtungen erlebt haben und weitermachen wollen. In Einrichtungen übernehmen die Krankenkassen die Kosten, in der Alten Wache nicht. Auch Studierende kommen häufig im Rahmen ihres Studiums. „Um die eigenen blinden Flecke” als Vorbereitung für den Beruf des Musiktherapeuten zu erkunden. Und eben: „Klienten, die mit ihren Problemen bei der verbalen Psychotherapie nicht weiterkommen”, so Jan Sonntag. Sprechen. Spielen. Sprechen.