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Axel F. auf einer Parkbank.
FOTO: Catharina Rudschies
Magazin #18

Sinneswandel: Als Blinder in Eimsbüttel

Mit 43 Jahren erblindet Axel F. Alles musste er neu lernen. Wie bewegt man sich durch sein Viertel, wenn ein Sinnesorgan plötzlich nicht mehr funktioniert?

Von Catharina Rudschies

Als Axel F. das erste Mal seit seiner Erblindung mit dem Bus fuhr, war das eine „widerliche Erfahrung”, erinnert er sich. Er stieg vorne ein und wollte sich auf den Sitzplatz hinter dem Busfahrer setzen. Doch die Frau, die dort saß, verwickelte ihn in eine Diskussion. Ihr Sitzplatz sei kein Behindertenplatz. Kurze Zeit später mischte sich ein weiterer Fahrgast in die Unterhaltung ein und sagte zu Axel F. gewandt: „Gehen Sie einfach durch. Sie sehen doch, wo noch Plätze frei sind!”

Das Problem: Axel F. kann nicht sehen. Vor rund sieben Jahren verlor der heute 50-Jährige aufgrund der Augenkrankheit Retinitis pigmentosa (RP) fast vollständig seine Sehkraft. Die Krankheit zerstörte seine Netzhaut, sodass er heute bei normalen Lichtverhältnissen gerade einmal starke Kontraste erkennen kann. Alles andere ist für ihn mit dem Auge nicht mehr wahrnehmbar.

„Da bin ich todesmutig gewesen, den Bus als Neublinder alleine zu besteigen“

Das Erlebnis seiner ersten Busfahrt als Blinder erschütterte Axel F. so sehr, dass er heute, wenn möglich, den Bus meidet. „Da bin ich schon todesmutig gewesen, den Bus als Neublinder alleine zu besteigen und dann werde ich in so eine Diskussion verwickelt”, erklärt Axel F. Als „Neublinder” musste er mit 43 Jahren alles neu lernen: gehen, lesen, schreiben, Bus- und Bahnfahren. Sich neue Dinge alleine zu wagen, sei jedes Mal wieder eine Herausforderung. „Aber wenn ich es geschafft habe, freue ich mich”, sagt er. In seinem Alltag geht Axel F. heute lieber zu Fuß oder nimmt die Bahn.

Rund um seine Wohnung kennt er die Straßen mittlerweile gut. Wenn er mit seinem Langstock unterwegs ist, weiß er, welche Gehplatten auf dem Fußweg in seiner Straße fehlen und wo er bei Regen möglicherweise in eine Pfütze treten wird. Er ist sich bewusst, an welcher Ecke Elektrokästen und an welchem Zaun in der Regel viele Räder stehen und ihn beim Gehen behindern können. Jeder Gegenstand, der sich auf dem Gehweg befindet, stellt für ihn ein mögliches Hindernis dar. Jedes Loch und jede Kante eine Stolperfalle.

Gleichzeitig dienen Rillen, Kantsteine, Hecken oder Häuserwände als Orientierungshilfe. Axel F. bewegt sich immer auf der straßenabgewandten Seite – auch, weil er dort weniger gefährdet ist. Einmal stand er plötzlich auf der Straße, ohne es zu merken. „Ich hatte wohl im Tran die Orientierung verloren”, erzählt er. Eine Frau sprach ihn an, ob er wisse, wo er sich befinde. „In Eimsbüttel”, sagte F. überzeugt. Die Frau erklärte ihm, dass er auf der Straße stand und ein Bus schon für ihn bremsen musste. „Da hatte ich wirklich Glück!”, so Axel F.

Noppen und Rillen zur Orientierung

Um solche Situationen möglichst zu vermeiden, entwickelte der Japaner Seiichi Miyake 1965 ein Blindenleitsystem, auch taktiles Leitsystem genannt. Auf Gehwegen, Plätzen oder Haltestellen werden Steine verlegt, die entweder erhabene Noppen oder Rillen aufweisen. Fährt ein Blinder mit dem Langstock über den Boden, kann er erkennen, wo sich Gefahr anbahnt (hinter den Noppensteinen) oder wo er sich sicher bewegen kann (entlang der Rillen).

Aufzüge, erhöhte Bahnsteige, Gapfiller und Orientierungshilfen für Sehbehinderte: Bis nächstes Jahr sollen bis auf vier Haltestellen alle Hamburger U-Bahnstationen barrierefrei ausgebaut sein. Foto: Catharina Rudschies

In Hamburg und im Bezirk Eimsbüttel wurde das taktile Leitsystem in den letzten Jahren immer häufiger verbaut. Bei Neubauten und grundlegenden Sanierungen von Straßen und Wegen sind die Kommunen mittlerweile dazu verpflichtet, die Orientierungshilfen zu verlegen. „In der Osterstraße zum Beispiel ist die Situation seit dem Umbau super”, erzählt Axel F.
„Bei anderen Wegen ist es aber noch katastrophal.” So auch an der Kreuzung Heußweg/Fruchtallee. Obwohl auf der südöstlichen Straßenseite gerade neue Steine verlegt wurden, fehlt hier immer noch ein Leitsystem.

„Uns ist die schlechte Situation an der Kreuzung sehr bewusst”

Auch die Ampeln sind nicht mit einem akustischen Signal ausgestattet, das anzeigt, wann sie auf Grün springen. Als Hauptverkehrsader mit sieben Spuren, davon mehrere Abbiegespuren, ist die Kreuzung wohl die gefährlichste in Axel F.’s Umfeld. Ohne jegliche Orientierungshilfen ist jede Querung der Straße ein Risiko. Um trotzdem auf die andere Straßenseite zu gelangen, muss Axel F. ganz genau hinhören. Kommen viele Fahrgeräusche von der Fruchtallee, kann er davon ausgehen, dass die Autos vom Heußweg kommend bei Rot stehen. In diesem Moment kann er als Fußgänger den Heußweg überqueren.

Tückisch jedoch sind die Autos auf den Abbiegespuren. Dürfen sie fahren, ist die Fußgängerampel noch Rot – das kann Axel F. aber nicht hören. Auf Nachfrage beim Hamburger Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG) heißt es, dass die taktilen Leitelemente an Kreuzungen nur dort eingebaut werden dürfen, wo eine Grundinstandsetzung stattfindet. Das sei hier nicht der Fall gewesen. „Uns ist die schlechte Situation an der Kreuzung, vor allem für Blinde und Sehbehinderte, aber sehr bewusst”, so LSBG-Sprecher Henning Grabow. Die Grundinstandsetzung der Ampeln sei bereits geplant. Wann diese durchgeführt wird, stehe aber noch nicht fest.

Hauptproblem: Es steht etwas im Weg

Joachim Becker, Verkehrsplaner am Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg, hält die Gesetzeslage zum Ausbau des Blindenleitsystems für problematisch. Er und seine Kollegen beraten unter anderem Behörden, Vereine und privatwirtschaftliche Unternehmen in puncto Barrierefreiheit. Das Zentrum ist die erste offizielle Stelle in Deutschland, an der sich Experten wie Architekten und Ingenieure für die Interessen von Menschen mit Behinderung einsetzen. Laut Becker habe sich in den letzten Jahren viel verbessert; zum Beispiel, dass überhaupt eine Rechtsgrundlage besteht, die den Einbau von Blindenleitsystemen bei Neubauten zur Pflicht macht.

Laut Becker habe sich in den letzten Jahren viel verbessert; zum Beispiel, dass überhaupt eine Rechtsgrundlage besteht, die den Einbau von Blindenleitsystemen bei Neubauten zur Pflicht macht. Auf der anderen Seite seien bestehende Straßen und Wege von dieser Pflicht ausgenommen. Besonders in Stadtteilen mit vielen Altbauten wie Eimsbüttel passiere im Bestand deshalb erst mal wenig. Dazu kommt, dass in alten und dicht besiedelten Stadtteilen die Gehwege oft sehr schmal und von Fahrrädern, Elektro-Tretrollern oder Autos zugeparkt sind.

Foto: Catharina Rudschies

„Das Hauptproblem von Blinden und Sehbehinderten ist: Es steht etwas im Weg”, erklärt Joachim Becker. Ob es ein Fahrrad oder ein Aufstellschild des Dönerladens sei: „Als sehender Mensch macht man sich oft nicht klar, dass das alles Barrieren für einen Blinden sind.” Für Becker und seine Kollegen ist eine Behinderung kein medizinisches Problem, sondern eben genau das: die Hindernisse, die dem Blinden von der Gesellschaft in den Weg gestellt werden. „Dass jemand nicht sehen kann, ist die Beeinträchtigung”, so Becker. Die Behinderung hingegen sei ein sozio-ökonomisches Problem.

Navigationshilfe Smartphone

Seit Axel F. erblindet ist, hat sich sein Bewegungsradius deutlich reduziert. Ein neues Café auszuprobieren, das ihm jemand empfiehlt, ist alleine schier unmöglich. Trotzdem versucht F. immer wieder, sich selbst oder mit einem Trainer neue Wege zu erarbeiten. So hat er es geschafft, dass er weiterhin zu seiner Lieblingskonditorei oder seinem alten Friseur gehen kann – obwohl beide an einer Straße liegen, die noch nicht barrierefrei ausgebaut ist.

Um seine Umgebung als Blinder besser kennenzulernen, hat Axel F. schon einige Navigationshilfen ausprobiert. Mittlerweile ist eine Reihe von Apps auf dem Markt, die Blinden in ihrer Mobilität behilflich sein sollen. Zum Beispiel Navigationsapps, die auf dem Weg zum eingegebenen Ziel beschreiben, was sich um den Blinden herum befindet. „Die Apps sind aber noch sehr ungenau”, konstatiert Axel F. Einmal habe ihn das Navigationssystem zu einer Apotheke führen sollen. Gelandet ist er vor einem Spielzeugladen. Sie haben Ihr Ziel erreicht. Ach, wirklich?

„Für Blinde wird oft nicht mitgedacht“

Recht gut funktioniert es, wenn Axel F. die U-Bahn nimmt. Die Haltestellen in Eimsbüttel und in der Innenstadt sind heute alle barrierefrei. Auf den Bahnsteigen befinden sich Leitstreifen und erhöhte Einstiegsbereiche. Problematisch wird es nur, wenn Axel F. von einer Haltestelle aus losfahren soll, die er nicht kennt. „Selbst wenn ich weiß, wo und wann die nächste U-Bahn fährt, weiß ich dann noch nicht, wie ich zum Gleis komme ode welchen Zug ich nehmen muss”, erklärt F.

Die Fahrgastinformation ist für Blinde immer noch ein großes Problem. Schilder und Anzeigen können Blinde nicht lesen. Eine Alternative ist aber oft nicht vorhanden. „Eigentlich muss man alles, was man sehen kann, auch hören können – und umgekehrt”, erklärt Verkehrsplaner Becker. In seiner Arbeit als Berater für den barrierefreien Ausbau merkt er immer wieder: Für Blinde und anders eingeschränkte Menschen wird oft einfach nicht mitgedacht.

Das merke man auch an Beispielen wie den Pilotprojekten für autofreie Zonen. Während die Fußwege für Blinde normalerweise sichere Bereiche darstellen, verschwimmen in autofreien Zonen alle Grenzen zwischen dem Fuß- und Radverkehr sowie dem Vergnügungsbereich. Sofas stehen auf den Bürgersteigen, Gastronomen stellen ihre Tische auf die Wege und die Fahrräder fahren kreuz und quer hindurch. „Wir sind nicht gegen autofreie Zonen”, stellt Becker klar. „Wir sagen aber, dass solche Zonen besser geplant werden müssen, damit sich eingeschränkte Menschen immer noch sicher in ihnen bewegen können.”

Für Axel F. ist der Alltag auf den Straßen Eimsbüttels seit seiner Erblindung immer etwas mühselig. Wenn mal wieder ein Auto auf dem Gehweg, auf dem Leitsystem oder in einer Kurve parkt, dann wundert er sich, warum Menschen nicht über die Konsequenzen nachdenken. „Sie haben wohl ihre eigenen Bedürfnisse”, winkt er dann ab. Axel F. versucht oft, seinen alltäglichen Problemen mit Humor zu begegnen. „Als ich blind wurde, habe ich mich gefragt: Soll ich mich jetzt erhängen oder weitermachen?”, erzählt er mit belustigtem Unterton. Seine Antwort: „Erhängen kann ich mich später immer noch. Ich mache weiter. Ganz langsam.” Schritt für Schritt.

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